Inhaltsverzeichnis

Rückwirkende Arztzeugnisse aus arbeitsrechtlicher Sicht

Schweizer Arbeitgeber stehen oft vor der Herausforderung, rückwirkende Arztzeugnisse ihrer Angestellten zu akzeptieren, die Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit vor dem Arztbesuch bescheinigen. Solche Zeugnisse sind besonders relevant bei Kündigungen und können Unsicherheiten im Umgang mit Krankheitsfällen verursachen.

Obwohl die schweizerische Rechtsprechung in Bezug auf rückwirkende Arztzeugnisse oft grosszügig ist, fragt sich, wie Arbeitgeber rechtlich korrekt mit solchen Fällen umgehen sollen.

Fallbeispiel

Das Unternehmen kündigte am 3. September 2023 einem Arbeitnehmer, der am folgenden Tag einen Arzt aufsuchte und ein rückwirkendes Attest über seine Arbeitsunfähigkeit ab dem 2. September erhielt. Der Arbeitnehmer bestreitet nun die Kündigung, da sie während einer Krankheit erfolgte. Das Unternehmen hingegen argumentiert, der Arbeitnehmer sei zum Zeitpunkt des Kündigungsgesprächs gesund gewesen und seine Gesundheit habe sich erst danach verschlechtert.

Wie beeinflusst ein Krankheitsfall die Kündigungsfristen?

Laut Art. 336c Abs. 1 Bst. b OR (Obligationenrecht) ist eine Kündigung unzulässig, wenn der Arbeitnehmer krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist, und zwar für 30 Tage im 1. Dienstjahr, 90 Tage vom 2. bis 5. Dienstjahr und 180 Tage ab dem 6. Dienstjahr.

Kündigungen während dieser Sperrfristen sind ungültig, mit Anspruch auf Weiterbeschäftigung, sofern der Arbeitnehmer arbeitsfähig ist. Wurde vor Beginn einer Sperrfrist gekündigt, pausiert die Kündigungsfrist bis zum Ende der Sperrzeit.

Beweiswert von Arztzeugnissen

Gemäss Art. 8 des ZGB (Zivilgesetzbuch) trägt der Arbeitnehmer die Beweislast für seine Arbeitsunfähigkeit, auch bei rückwirkenden Arztzeugnissen. Diese Zeugnisse gelten nicht automatisch als endgültiger Beweis, sondern eher als eine Behauptung.

Die Anerkennung der Arbeitsunfähigkeit aufgrund eines rückwirkenden Attests hängt von der Beurteilung der zuständigen Instanz ab. Einfache Beschwerden wie Unwohlsein genügen normalerweise nicht für den Nachweis. Rückwirkende Arztzeugnisse sind daher wichtige, aber nicht die einzigen Beweismittel für Arbeitsunfähigkeit bei Krankheit.

Rechtliche Implikationen rückwirkender Arztzeugnisse

Ein rückwirkendes Arztzeugnis ist nicht automatisch ungültig, obwohl es rechtliche Komplexitäten birgt und sorgfältig geprüft werden sollte. Die Fähigkeit eines Arbeitnehmers, Urlaub zu machen, impliziert dabei nicht zwingend seine Arbeitsfähigkeit.

Zudem betont das Bundesverwaltungsgericht, dass der Kündigungsschutz auch ohne das Wissen des Arbeitgebers über die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers greift, was die Wichtigkeit des Arbeitnehmerschutzes unabhängig von der Informationslage des Arbeitgebers hervorhebt.

Vertrauensärztliche Untersuchung als Antwort auf umstrittene Arztzeugnisse

Arbeitgeber können Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit von Mitarbeitern haben, insbesondere wenn deren Verhalten der behaupteten Krankheit widerspricht. Sie haben das Recht, eine Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit zu fordern, was die Einholung weiterer Informationen oder eine Nachprüfung durch einen Vertrauensarzt einschliessen kann.

Ein ärztliches Zeugnis gilt dabei nur als Indiz, nicht als abschliessender Beweis. Die rechtliche Zulässigkeit einer vertrauensärztlichen Untersuchung variiert und kann Konsequenzen wie die Fortzahlung des Lohns oder sogar eine Kündigung nach sich ziehen, sollte sich herausstellen, dass keine Arbeitsunfähigkeit vorliegt.

Beurteilung durch das Gericht

Sofern sich das Unternehmen und der Arbeitnehmer in unserem Fallbeispiel nicht einig werden, muss letztlich das Gericht entscheiden, ob die Kündigung innerhalb der gesetzlichen Sperrfrist erfolgte oder nicht.

Es hat dabei zu prüfen, ob die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers bereits vor der Kündigung bestand, so wie das Arztzeugnis, das erst später ausgestellt wurde, dies bestätigt. Sollte die Arbeitsunfähigkeit tatsächlich vor der Kündigung begonnen haben, wäre die Kündigung nichtig und das Arbeitsverhältnis bliebe bestehen.

Bei seiner Beurteilung berücksichtigt das Gericht die Aussagen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie den ärztlichen Bericht. Eine korrekte Entscheidung erfordert eine umfassende Prüfung aller Umstände.

Rechtsanwalt

Roman Hänggi
Im Aargauer Fricktal geboren und aufgewachsen ist Roman M. Hänggi eng mit der Region Nordwestschweiz verbunden. Mit grosser Entschlossenheit und Engagement hat Roman M. Hänggi seine juristische Ausbildung zum Anwalt in sieben Jahren durchlaufen. Neben seinem Beruf war er auch im Militär über viele Jahre als Gerichtsschreiber, Untersuchungsrichter, Auditor, Geschäftsleitender Auditor und Präsident juristisch tätig. Roman M. Hänggi ist verheiratet und hat zwei Söhne. Seine Freizeit verbringt er am liebsten mit seiner Familie und, sofern daneben noch Zeit übrig bleibt, in seinem Garten.